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Leben in Luxor Autorenforum: Die Wüste als Utopie – Ibrahim al-Koni und sein verlorenes Paradies
von Hans Mauritz (August 2024)
Illustriert von Claudia Ali
Ibrahim al-Koni (ابراهيم الكوني) wurde 1948 in einer Oase in der Nähe von Ghadames in der nordwestlichen libyschen Sahara geboren. Seine Muttersprache ist Tamasheq, eine der Sprachen der Tuareg. Erst mit zwölf Jahren hat er Arabisch gelernt, die Sprache, in der er mehr als 80 Werke verfassen sollte (1). Ibrahim al-Koni gilt als einer der berühmtesten Schriftsteller der arabischen Welt und als jener Autor, der Wüste und Nomadentum zur Metapher der menschlichen Existenz und zur Gegen-Utopie des modernen Lebens gemacht hat.
Al-Koni hat seine Heimat sehr früh verlassen und Exil und Fremdheit kennengelernt, ein anderes Thema seines Schreibens. Wenn er heute nach seiner Kindheit gefragt wird, in der er als Ziegenhirte an Kälte, Hunger und Durst litt und mit der Angst vor Wölfen und Schlangen lebte, antwortet er: "a lost paradise" (2).
Der junge Journalist zog 1970 nach Moskau, um am Gorki-Institut vergleichende Literaturwissenschaft zu studieren und sich die großen Werke der Weltliteratur in russischer Übersetzung anzueignen. Nach einer Tätigkeit als Journalist in Moskau und Warschau ließ er sich 1993 in der Schweiz nieder. Dorthin war er 1988 gereist, um sich in Bern medizinisch behandeln zu lassen. Da er kein freies Hotelzimmer fand, wies man ihn ins Dorf Hünibach. Nach der Fahrt mit Zug und Bus stand er recht verloren da. Ein Passant holte kurz entschlossen sein Auto aus der Garage, hieß den Fremden einzusteigen und fuhr ihn die wenigen hundert Meter zum gesuchten Gasthof: al-Konis erste Begegnung mit schweizerischer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft (3).
Das Schicksal wollte es, dass er sich fünf Jahre später in genau diesem Ort niederließ, wo er "die schönsten und künstlerisch produktivsten Jahre in meinem Leben" verbringen sollte. Die Romane, die er in seiner neuen Heimat oberhalb des Thunersees verfasst, handeln ohne Ausnahme von der Wüste und den Oasen der Sahara. "Sur la terrasse de son chalet-résidence, Ibrahim al-Koni scrute les dunes de son Sahara intérieur" (4). Der Tuareg, der nach dem Gesetz seines Stammes nicht länger als 40 Tage am selben Ort verharren sollte, ist sesshaft geworden. "Aber die Freiheit der Umherziehenden kann man in sich selbst, in der Meditation, finden." Dieses Exil ist leichter zu ertragen, weil für ihn die Schweizer in ihrer Beziehung zur Natur den Tuareg nahe sind und wie sie eine poetische, mystische, sufistische Liebe zu ihr empfinden (4).
Tuareg in der Wüste, © Pascal Maitre
Der Sufismus, die islamische Mystik, prägt die Art, wie al-Koni die Wüste darstellt. Das Leben ihrer Bewohner spielt sich ab an einem Ort außerhalb des Raumes und der Zeit. Was geschieht, ist nicht spektakulär. Die Nomaden verharren an einer Wasserquelle und ziehen dann mit ihren Herden weiter. Kinder hüten die Ziegen, Männer ihre Kamele. Viele sind einsame Wanderer, fühlen sich als Fremdlinge und Eremiten. „Gott ist keinem Menschen nahe, welcher nicht nahe ist bei der Einsamkeit.“ Selbst wenn sie zu zweit oder zu dritt durch die Wüste ziehen, schweigen sie, denn die wahre Sprache der Wüste ist das Schweigen. Sie "reden", "ohne die Worte mit der Zunge zu besudeln [...] Das Schweigen nämlich ist eine Einübung der Seele in die Ewigkeit [...] Du ahnst ja nicht, wie sehr die hässliche Zunge die Dinge entstellt, wenn sie sie ausspricht." Das Schweigen ist "das Reden der Ewigkeit".
Wenn die Menschen nicht reden, redet die Wüste. Alles Sichtbare ist Metapher für Unsichtbares und spricht mit Zeichen: die unendliche Weite, die Felsen und Steine, die Gräber der Ahnen, der Himmel. Wer dahinzieht, kennt "keine Verlassenheit, weil das Wunder des kahlen Himmels über ihm großartiger war als alle Geschenke des Schicksals". Der volle Mond tröstet ihn und sagt ihm, "alles sei nichtig, und was bleibe, seien einzig die Körper des Himmels." Wichtiger als das Reden sind für die Nomaden die Musik, die Poesie und der Gesang. Der Singende entdeckt, dass "jedes Wort, das sich nicht in Gesang verwandelt, Geschwätz und Gefasel bleibt."
Die Umherziehenden haben wenig Sinn für leeres Gerede, weil ihr Herz voll ist von Sehnsucht. "Die Sehnsucht ist das erste Schicksal des Wüstenbewohners." Diese Wanderer sind in der Welt Fremdlinge, weil sie wissen, dass sie seit dem Sündenfall ihre Heimat, die paradiesische Oase "Wâw", verloren haben. Sie glauben, "dass allein der Wanderer in seinem Herzen die Sehnsucht hegen kann, die verlorene Oase zu erreichen." Und vielleicht ist das Erreichen nicht der wichtigste Aspekt der Wanderung. Der Umherirrende weiß, "dass das Geheimnis im Unterwegssein liegt, dass das Unterwegssein das Leben ist." Es gilt, sich ganz dem Weg hinzugeben, aufzuhören, von der Ankunft zu träumen, und das wahre Glück im Unterwegssein zu finden. "Wird so nicht der Weg das eigentliche Ziel des Wanderers?" Dieses Unterwegssein ist so wichtig, weil die verlorene Oase vielleicht gar nicht im durchwanderten Raum existiert, sondern allein im Herzen des Wanderers. "Wenn du dein Wâw nicht in dir selbst findest, bei deiner Wanderung, wirst du es nirgends finden."
Tuaregs ziehen mit Kamelen durch die Wüste, © picture-alliance / Wildlife
Auch wenn die Wüste als "Leere" bezeichnet wird und wir vielen Gestalten als einsamen Wanderern und Eremiten begegnen, ist diese Welt weniger leer als wir vermuten könnten. Neben und mit den Menschen lebt ein Volk, das meist unsichtbar bleibt und sich trotzdem ständig bemerkbar macht: die Dschinnen, die in der Wüste schon lange vor den Menschen ihren Lebensraum hatten und ihre Vorrechte nicht an die neuen Bewohner abgeben wollen. "Die erste Lektion, die jedes Kind von seiner Mutter lernt, ist "dass es in die Wüste als Gast der Dschinnen gekommen ist und dass es deren Sitten respektieren muss und ihre Besitztümer nicht anrühren darf [...] Das Gold ist ihr Lieblingsmetall. Es zu besitzen, ist ein Angriff auf ihr Vorrecht und eine Verletzung des unverbrüchlichen Vertrages zwischen den Wüstenbewohnern und den Bewohnern des Unbekannten."
Wer die Dschinnen herausfordert, erregt ihren Zorn und wird bestraft. Die Konfrontation kann spektakulär und von makabrer Komik geprägt sein. Die Dschinnen lieben Masken und Verkleidungen. Um uns zu erschrecken, schneiden sie sich die Köpfe ab oder wachsen in die Höhe, bis sich ihre Gestalt im Himmel verliert. Sie können auch an uns raffinierte psychische Transformationen vornehmen. "Ja, ich möchte fast behaupten", wird zu einem gesagt, der aus der Einsamkeit zurückkehrt, "die Dschinnen hätten dich in der Wüste ausgewechselt und hätten in deinen Körper ein anderes Geschöpf gesetzt, eines aus ihrer abscheulichen Sippschaft."
Doch so abscheulich sehen die Dschinnen nicht immer aus. Es kommt vor, dass eine unbekannte schöne Frau in der Oase auftaucht, ein "Dschinnenweib", dass mit ihrem Gesang die Männer in Wahnsinn und Ekstase versetzt. "Im wilden Rausch fielen Menschen von den Dächern der Häuser [...] Manche wurden von Schwermut übermannt. Sie zogen ihre Schwerter und richteten sie gegen sich selbst."
Die Dschinnen versetzen nicht nur andere in Raserei und Wahnsinn, sondern lieben es, auch selbst in Ekstase zu geraten. Diese Leidenschaft geht schon aus ihrem Namen hervor. Die Bezeichnung "die Dschinnen" (الجّن) ist von einem Verbstamm abgeleitet, der "besessen sein, wahnsinnig, verrückt werden" oder "in Wut, in Raserei versetzen" bedeutet. "al-dschunûn" (الجنون) ist das gängige arabische Wort für "Besessenheit, Wahnsinn, Raserei, Ekstase", und das Adjektiv "madschnûn" (مجنون) bedeutet "verrückt".
Was diese Dämonen aus dem Reich des Unsichtbaren praktizieren, hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Darbietungen der frommen Derwische, der Mystiker, der Gottsucher und "fous de dieu". Sie schlagen ekstatisch die Trommeln, bewegen sich rhythmisch hin und her und skandieren die 99 Namen Allahs. Eine solche Zeremonie, "dhikr" (ذكر) genannt, findet noch heute in den Dörfern von Oberägypten statt (5). Diese "Sitzungen", die gesittet und unblutig verlaufen, nehmen in der Welt Ibrahim al-Konis häufig urtümliche, ungezügelte und erschreckende Züge an. Die Scheichs des Tidschanîya-Ordens sind berühmt dafür, in wilde Verzückung zu geraten. "Wenn einer von ihnen den Zustand der 'Begegnung' erreicht hatte, zückte er ekstatisch sein Messer und pflanzte es sich in die Brust, um die Rückkehr unmöglich zu machen."
Standbild aus dem Video "Zikr II - Moulid" von Brian Flynn, 2019
Diese Ähnlichkeit in den Praktiken der Ekstase macht die Verwandtschaft zwischen Wüstenbewohnern und Dschinnen plausibel, die bei al-Koni immer wieder zur Sprache kommt. "Alle Geschöpfe der Wüste sind verwandtschaftlich miteinander verbunden", sagt Âkka, der selbst ein "Chass", ein Mischling aus beiden Völkern, ist. "In der Wüste, die wir durchqueren, existiert kein Unterschied zwischen Mensch und Dschinn." So hören wir auch von guten Dschinnen, die "weder Bosheit noch üble Machenschaften" kennen. "Sie sind sogar besser als wir, weil sie Gutes niemals mit Bösem erwidern". Im Zug der Islamisierung der Wüstenbewohner sind auch die Dschinnen zum Teil Muslime geworden.
Ganz wesentlich zur Wüste gehört ein drittes "Volk", die Tiere. Diese sind ganz nahe beim Menschen und verhalten sich wie er. Sie reagieren sogar oft menschlicher als der Mensch. Die Teilnehmer einer Karawane sind erschüttert vom Klagelied eines Kamels, dessen Herr umgekommen ist: "Ich möchte wetten, dass im Leib dieses Tieres ein Mensch steckt und kein Tier [...] Das Kamel ist das einzige Tier des Wüste, das die Trennung von seinem Herrn nicht erträgt. Es verendet aus Trauer, wenn sein Herr stirbt."
Libysche Tuaregs mit ihren Kamelen, © Michael Runkel
Zwischen Menschen und Tieren kann Freundschaft und sogar Blutsbrüderschaft existieren. Eine Gazelle hat ihr Leben geopfert, um mit ihrem Blut ein verdurstendes Kind zu retten. "Wir und das Menschenkind sind Blutsbrüder geworden." Der Ahn der Derwische ist unter der Obhut von Wölfen aufgewachsen und hat ihre Sprache gelernt. Deshalb folgt Scheich Mussa, sein Nachkomme, dem "Ruf seiner Ahnin, der weisen Wölfin, die seinen Ahn gesäugt und zwischen ihm und dem Wolfsrudel Brüderschaft hergestellt hatte."
In Tieren können Menschen versteckt sein, gute oder böse. Eine Hirtin erschrickt über den "unheimlichen, wilden, satanischen Blick" einer ihrer Ziegen, "aus Augen, die fast menschlich waren". Es scheint, "als ob sie es nicht mit einem Zicklein, sondern mit einem Geschöpf zu tun habe, dem ein böser Mensch innewohnt."
Wer die Tiere liebt, lebt als Vegetarier. "Fleisch wurde ihm ekelhaft [...] Wie konnte nur ein Geschöpf das Fleisch eines anderen essen?! [...] Seit Assûf kein Fleisch mehr aß, weideten die Mufflons in großer Zahl in seiner Nähe." Er streichelt sie und redet mit ihnen. "Dann trösteten sie ihn mit ihren Augen, die tausend Sprachen sprachen und in tausend Zungen redeten." Ein anderer Nomade, Edebnân, findet "in der Gesellschaft der Tiere jene Weisheit, die uns in der Gesellschaft der Menschen mangelt."
Unter den Tieren der Wüste nimmt der Mufflon eine besondere Stellung ein. Er ist ein heiliges Tier, das schon die Ahnen in ihren Felszeichnungen dargestellt haben, wo er majestätisch neben dem Priester steht. Die Nomaden sehen mit Erstaunen, wie die Touristen, Christen aus Europa, andächtig, fast betend, vor diesen Bildern stehen. Den Libyern aus dem Norden dagegen geht es allein um die Jagd auf Mufflons und Gazellen, nach deren Fleisch sie süchtig sind.
Mufflon, © unbekannt
"Der Mufflon ist kein Tier von dieser Welt. Er ist ein himmlisches Tier, ein Engel, ein Bote." Die Nomaden haben erlebt, dass er Jäger, die hinter ihm her waren und über einem Abgrund hängen blieben, vor dem sicheren Tod bewahrt hat, indem er ihnen half, einen rettenden Absatz zu erreichen. "Wer von beiden war der Mensch? Wer das Tier?" Assûf hat sogar in den Augen eines gejagten Tieres seinen verstorbenen Vater gesehen. Es ist, als ob Mensch und Tier, Jäger und Gejagter, eins geworden seien. Der Mufflon-Vater hilft ihm ebenfalls, als er von den italienischen Besatzern zwangsrekrutiert wird. Assûf entkommt, in einen Mufflon verwandelt.
Ein anderer Mann aus dem Stamm wird Udâd (Mufflon) genannt, weil er von diesem Tier so fasziniert ist, dass er nicht davor zurückschreckt, sich in seine Welt vorzuwagen, "sich an der Heiligkeit des unerreichbaren Berges zu vergreifen und sich gegen die Unsichtbaren aufzulehnen." Über dem Gipfel liegt nur noch der "Schlund der Finsternis". Wer ihn erreicht und hineinblickt, so heißt es, verschwinde auf ewig.
Obwohl die Tuareg vor Jahrhunderten den Islam angenommen und selbst für seine Ausbreitung gekämpft haben, zeichnet Ibrahim al-Koni eine Wüste, in der vorislamische Glaubenspraktiken äußerst lebendig geblieben sind. "Es ist, als weigerte sie sich, die alte Religion aufzugeben, die wir mit der finsteren Vergangenheit begraben haben, als wir die Religion der Muslime übernahmen."
Tuareg aus Libyen,
© Mohamed Alazrak
Wer in der Wüste und in der Nähe der Oasen vorbeizieht, bemerkt an den Stimmen der ekstatisch singenden und trommelnden Derwische, die Allahs Namen anrufen, dass er sich in einer muslimischen Gegend befindet. Aber,wie wir gesehen haben, kann diese Ekstase so rauschhaft und selbstzerstörerisch werden, dass sie von der "heidnischen" Verzückung und vom Wahnsinn der Menschen und der Dschinnen nur schwer zu unterscheiden ist.
Vom Freitagsgebet in der Moschee und übrigen Pflichten der Muslims (den fünf Pfeilern des Islam) ist bei al-Koni weniger die Rede als von Talismanen, Amuletten und Zaubersprüchen, mit denen man sich gegen dunkle Mächte wappnet. Ein Amulett fertigt der Faqîh (الفقيه) an, der islamische Theologe und Rechtsgelehrte. Aber lieber wenden sich die Leute an den heidnischen Zauberer, dessen "Produkte" wirksamer sind und länger halten. Erstaunlich ist, dass die Faqîhs und die Seher der Magier sich einig sind in dem Glauben, "dass ein rückwärts gesprochener Koranvers die bösen Dschinnen bindet und die Schlangen lähmt." Achmâd, von einem Dschinn fortgeschleppt, denkt an dieses Wundermittel, den Thronvers. Aber er weiß diese berühmte Sure nicht auswendig und vermag sie erst recht nicht rückwärts aufzusagen.
Ayat al-Kursi (Thronvers), © Rahman's Design Gemälde
Achmûk, ein anderer junger Mann aus dem Stamm, studiert islamisches Recht und Theologie an der Schule der Großen Moschee in Timbuktu. Er ist seit seiner Kindheit jedoch so fasziniert von den Steinen, dass er Großbaumeister des Sultans wird. Die Steine, so sagt er, sind die Heimat Gottes. Da sieht sich der Sultan verpflichtet, ihn zu warnen: "Im Stamm gibt es Menschen, die in den Steinen nichts anderes sehen als Götzenbilder, denen der Teufel innewohnt." Man sieht, die Auseinandersetzung zwischen Anhängern des Islam und jenen der vorislamischen Zeit ist noch längst nicht abgeschlossen.
Fast alles, was al-Koni über die Wüste schreibt, findet seinen Gegenpart, wenn er uns in die Welt der Oasen führt. Dabei evoziert er beim Leser nicht die romantischen Bilder, die wir mit den Oasen verbinden: Plantagen mit Datteln und Palmen, Tiere auf der Weide. Die Oase, das ist für ihn die Stadt, das sesshafte Leben, der Handel, die Märkte, das Handwerk, die "Zivilisation".
Die Nomaden haben ihr vom Umherziehen, von Einsamkeit, Meditation und Gottsuche geprägtes Leben gegen Sicherheit, Besitz, Wohlergehen, Luxus und Vergnügen eingetauscht. All diese Errungenschaften werden bei al-Koni negativ bewertet: "Der Stamm zog in Festgebautes ein, die freien Menschen richteten sich in Gefängnissen hinter Mauern und hohen Wänden ein." "Die Oase, das ist die Falle des Wanderers, das Paradies der Durstigen, der Schatz der Irrenden, die Heimat der Knechte." „Alle Bewohner der Oasen sind Sklaven.“ Nicht Sklaven der Menschen, Sklaven des Teufels.
Der Besitz zerstört die Seele der Wüstenbewohner. "Willst du die Welt besitzen? Dann besitze nicht die Reichtümer der Welt!" "Niemand kann einen Schatz besitzen und gleichzeitig sich selbst." Rettung läge allein in der Flucht zurück in die Wüste. "Hat nicht der Spross der Wüste das Recht zu fliehen [...], um der Sesshaftigkeit zu entkommen, bei der das Eigentum an Gottes Stelle tritt?" In den Städten wird das Verbot, Gold zu besitzen und mit Gold zu handeln, weil dies allein den Dschinnen vorbehalten ist, gelockert und schließlich ganz missachtet. So "ist das Gold der Gott derjenigen geworden, die beschlossen, alle Götter zu leugnen."
Goldschmuck, © unbekannt
Die Städter unternahmen Exkursionen über sehr lange Distanzen in Richtung Südwesten, um sich bei den heidnischen Stämmen des "Dschungels" Gold zu besorgen. Diese nutzen die Chance und lassen sich in den Städten nieder. Sie verknüpfen ihr Darlehen mit der Forderung, auf den Islam zu verzichten, die alten Gottheiten wieder anzubeten und die Rituale der Magier neu zu beleben. Ein Magier ist nicht einer, der sich vor Steinen niederwirft. "Der wahre Magier ist vielmehr derjenige, der Gott um Geld verkauft und ihn in seinem Herzen für die Liebe zum Gold eintauscht." Wie wichtig Ibrahim al-Koni die Reflexion über die Religion der Magier ist, zeigt sich daran, dass er seinem Hauptwerk den Titel „Die Magier“ gegeben hat.
Der Zufluss von Gold lockt die Menschen in die Städte, und der Handel blüht. Dieser beschränkt sich nicht mehr auf den lokalen Markt. Wer seinen Besitz vermehren will, zieht mit den Karawanen los, bringt seine Waren in die Reiche des Dschungels und kehrt mit einem Goldschatz zurück. Er bezahlt diesen Reichtum mit Selbstverlust: „Er vergaß die Oase, und eines Tages hatte er auch seinen Namen vergessen.“
Der Reichtum macht süchtig. „Der Mensch giert nach immer mehr, weil es ihn gelüstet, andere zu beherrschen, zu unterwerfen und zu versklaven.“ In den Oasen herrschen nicht mehr die Noblen, die selbst Wanderer, Eremiten und Dichter waren und ihr Amt nach den überkommenen Gesetzen ausübten. Der Handel braucht einen Führer, der nur eine Puppe in den Händen der Mächtigen ist. Um ihn zu küren, kann es genügen, den Zufall walten zu lassen: der erste Fremde, der vorbeigeht, soll Führer sein. So passiert es, dass man einen Dschinnen erwählt, der in einer Vogelscheuche versteckt war und dahin zurückkehrt, nachdem er die Oase ruiniert hat. „Die Vogelscheuche ist unser Schicksal. Wir lassen uns nieder in ihr. Sie lässt sich nieder in uns. Wir sind die Vogelscheuche, und die Vogelscheuche ist wir.“
Ibrahim al-Koni weiß, dass die Wüste heute längst nicht mehr jene ist, die er als Nomadenkind kennen gelernt hat. Sie wurde entstellt durch die Konzerne, die Erdöl und andere Bodenschätze fördern. Das Erdöl ist ein Fluch, kein Segen für die Libyer. Es tötete nicht nur „die instinktive Liebe zur Arbeit, sondern erschütterte in ihren Seelen auch die ethischen Werte“ (6). Auch der Massentourismus und die Jagd bedrohen das Leben in der Wüste. Die Schnellfeuergewehre ermöglichen es den Jägern, auf einem einzigen Jagdzug eine ganze Herde von Gazellen zu erledigen.
Tamarisken in der libyschen Wüste, Libyen, © Konrad Wothe
Im Bewusstsein, dass Kultur und Lebensweise der Tuareg verschwinden, sieht der Schriftsteller seine Aufgabe darin, Zeugnis abzulegen von dem, was er noch als lebendige Realität erlebt hat. „Und jemand müsse das festhalten, was hier als Teil der Menschheitsgeschichte ein Volk gelebt, gedacht, geträumt habe“ (7).
Al-Koni spricht von diesem Lebensraum als „meine Wüste als Heimat und Metapher“. Er erzählt nicht in erster Linie seine Erinnerungen, sondern gebraucht die Wüste als Symbol, als Metapher der menschlichen Existenz. Die Wanderung der Nomaden meint die Irrfahrt des Lebens, die Suche nach Sinn, nach Gott, nach Glückseligkeit und Erfüllung. Umgekehrt ist ihm die Oase, die Stadt, Metapher des modernen Lebens und „Belohnung“ für alles, was wir aufgegeben und gegen den Segen der „Zivilisation“ eingetauscht haben. Sie schenkt uns, so meint er, nicht das wahre Leben, sondern die Illusion des Lebens, den Selbstverlust, das bloße Spektakel und die Knechtschaft. Die Regeln des Handels und des Marktes beherrschen uns, der Konsum macht uns gierig und süchtig, und die Medien berieseln uns mit leerem Geschwätz. Die Politik kaschiert Ungerechtigkeit und Tyrannei und bringt uns dazu, unsere Knechtschaft zu akzeptieren.
Ibrahim al-Koni weiß, dass der Weg zurück in die Wüste verschlossen ist. Was uns als Ausweg bleibt, ist ein Leben, in dem Genügsamkeit, selbstgewählte Einsamkeit, Schweigen und Meditation die Stelle des Spektakels und der Betriebsamkeit einnehmen, ein Dasein, in welchem die Suche nach Sinn, „die Suche nach einem anderen Leben, das hinter dem Leben liegt“, die Gier nach Macht und Besitz einschränkt. Ein Leben wie das der Sufis, der islamischen Mystiker, die in Musik, Gesang und Bewegung aus ihrem Kerker ausbrechen, um einer höheren Wirklichkeit zu begegnen.
Abendessen der Tuaregs in der Wüste, © Brent Stirton
Anmerkungen
(1) Die Zitate stammen aus folgenden Werken des Schriftstellers Ibrahim al-Koni, alle erschienen im Lenos-Verlag und übersetzt von Hartmut Fähndrich. [Die Links führen zu unserer Partner-Seite Amazon. Anm. d. Red.]
- Blutender Stein. Roman aus Libyen, 2000
- Goldstaub. Roman aus Libyen, 1997
- Ein Haus in der Sehnsucht. Roman aus der Sahara, 2003
- Das Herrscherkleid. Roman aus der Sahara, 2009
- Die Magier. Das Epos der Tuareg, 2011
- Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara, 2007
- Nachtkraut. Roman aus der Sahara, 1999
- Die Puppe. Roman aus der Sahara, 2008
- Schlafloses Auge. Aphorismen aus der Sahara, 2001
- Die steinerne Herrin. Ergänzende Episoden zum Epos der Tuareg, 2004
- Die verheissene Stadt. Roman aus der Sahara, 2005
Ferner:
- The Scarecrow. A Novel, translated by William M. Hutchins, AUC Press 2015
- Ibrahim al-Koni’s "The Desert Also Keened", in: Arablit, December 13, 2023
(2) Thirst for the Desert: A Conversation with Ibrahim al-Koni, in: AramcoWorld, March/April, 2023
(3) Ibrahim al-Koni: Palast der Gastlichkeit, in: NZZ 24.05.2008, S. 49
(4) Isabelle Rüf: Le désert comme destin, in: Le Temps, 26.03.2005
(5) Vgl. Hans Mauritz: Allahs Namen nennen: "Zikr", Sufi-Rituale in Oberägypten, April 2023, im Leben in Luxor Autorenforum
(6) Ibrahim al-Koni: Ein Festschmaus am Leichnam der Mutter, in: NZZ, 11.05.2007, S. 43
(7) Hartmut Fähndrich: Nachwort zu [Anzeige] Meine Wüste. Erzählungen aus der Sahara, 2007
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